Bücher schreiben: Tipps für die Figurenentwicklung im Roman
- regina84193
- 8. Okt.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Okt.

Jedes Buch lebt von seinen Charakteren. Gute Haupt- und Nebenfiguren erwecken entweder tiefe Verbundenheit oder Ablehnung bei den Leser:innen, man fiebert mit ihnen mit, leidet mit ihnen und bangt um ihr Leben – oder wünscht ihnen den Tod. Mit diesen Tipps schaffst du es, glaubwürdige und funktionierende Protagonisten zu zeichnen.
von Mira Valentin
Jaime Lennister war drei Staffeln lang mein Hass-Charakter bei Game of Thrones. Ein böser Mensch, der kleine Kinder aus Turmfenstern stößt, Sex mit seiner Schwester hat und überdies ein arroganter Schnösel in einer goldenen Rüstung ist – also ein klassischer Antagonist, so denkt man. Nun hat aber der große George R. R. Martin das Wunder vollbracht, dass ich einige Staffeln später zitternd und Fingernägel kauend um Jaimes Leben gebangt habe. Warum? Weil der Autor seinem Charakter Tiefe verliehen hat, weil er ihn weiterentwickelt und den Leser:innen seine innere Beweg- und Abgründe vor Augen geführt hat. Und dabei wären wir beim ersten Punkt.
Romanfiguren Tiefe verleihen
Tiefe verleihst du einer Figur in zwei Schritten. Schritt 1: Verdeutliche ihre inneren und äußeren Besonderheiten. Gib ihnen Liebenswürdigkeiten, aber auch Macken. Nichts ist so uninteressant wie ein wahnsinnig gutaussehender und kluger Held, der immer alles richtig macht (außer vielleicht ein Zauberer, dessen Magie unbezwingbar ist). Schritt 2: Zeige ihre Menschlichkeit, erzähle ihre Vergangenheit, erkläre ihre Motive. Dann lass sie mit ihren Problemen kämpfen und verändere sie.
Jaime wächst ab dem Punkt, an dem er seine Schwerthand verliert. Ein solcher Plottwist ist immer gut, um eine Charakterveränderung zu starten. Ebenso kannst du eine Szene schreiben, in der einschneidende Erlebnisse aus der Kindheit der Figur beleuchtet werden und der Leser erkennt, welche womöglich schrecklichen Erfahrungen hinter ihrem Verhalten stecken. Oder du lässt deine Protagonisten aus einem höheren Beweggrund eine fatale Entscheidung treffen – wie Anakin Skywalker, der aus Liebe der dunklen Macht verfällt. Helden die zu Bösewichten werden sind ebenso spannend wie Bösewichte, die zu Helden werden. Das spannendste aber ist eine Figur, die bis zum Ende zwiespältig bleibt.
Rule-Breaking schafft Nähe
Auch Leser:innen selbst haben Ecken und Kanten und Unzulänglichkeiten. Erkennen sie diese in deinem Protagonisten wieder, werden sie sich eher mit ihm identifizieren. Rule-Breaking ist das Brechen mit gängigen Regeln oder Klischees. Im Bereich der Charaktere bedeutet das: Lass den Wikinger seekrank sein, den Millionär dick oder den Kommissar eine Lese-Rechtschreib-Schwäche haben. Das macht sie interessant und schafft Konflikte, die du in ebenso interessanten Szenen ausbauen kannst. Aber Achtung: Überfordere die Leser:innen nicht! Kleine Schwächen darfst du jedem Charakter mitgeben, extremeres Rule-Breaking sollte nicht überstrapaziert werden. Ein oder zwei besonders ungewöhnliche Figuren pro Buch reichen, sonst steigt die breite Masse der Leserschaft aus. Bedenke: Seit Anbeginn der Zeiten werden Geschichten von gewissen Archetypen getragen, die man grundsätzlich kennen und schätzen sollte – und dann nur in den erwähnten Ausnahmefällen durch Rule-Breaking verändert. Solche Archetypen sind beispielsweise der Liebende, der Herrscher, der Weise, der Narr, der Held oder der Rebell.
Äußere Merkmale
Nicht nur innerlich, auch äußerlich sollten deine Romanfiguren hervorstechen. Überlege dir genau, wie sie aussehen und welche unverwechselbaren Kennzeichen (dazu zählt auch Gestik und Mimik) sie haben. Erstelle einen Charakterbogen, wenn du dir nicht alles merken kannst. Augenfarbe, Haarfarbe und Alter sind nur der Anfang. Dazu kommen Merkmale wie krumme Nase, markantes Kinn, blasse Hautfarbe, Zahnlücken, Muttermale, aufrechter Gang, Rotwerden, Fingernägelbeißen und, und, und. Manch einer fängt gerne Sätze mit „Hmmm“ an oder massiert sich beim Denken ständig die Schläfe. Achte darauf, dass die Gewohnheiten und Äußerlichkeiten zum Charakter passen. Ein Elbenprinz sollte zum Beispiel nicht beim Essen schmatzen – es sei denn, er ist die besondere Rule-Breaking-Figur im Buch.
Ein besonderer Fall sind hier größere Personengruppen. Ich hatte zum Beispiel in meinem Debütroman zwölf Jugendliche, die einer Art Kampftruppe angehören. Natürlich waren einige davon wichtiger als andere, aber alle mussten zu Wort kommen und beschrieben werden. Ich rate jedem, eine solche Konstellation nur zu entwerfen, wenn er genügend Zeit hat, um sie in einem langen Buch oder einer Reihe aufzubauen. Auf zweihundert Seiten geht so etwas einfach nicht ausreichend und sollte als Idee verworfen werden.
Du brauchst Inspiration, um deine Figuren zu erschaffen? Kein Problem: Beobachte Menschen an einem Bahnhof, schau gute Filme an und reise durch die Welt. Manchen Autoren und Autorinnen hilft es auch, sich Fotos (zum Beispiel von Schauspielern) an die Wand zu hängen.
Antrieb und Konflikte
Jeder – ich betone – jeder Charakter im Buch braucht einen klaren Antrieb. Warum tut er das, was er tut? Warum verhält er sich so? Was will er erreichen? Prallen mehrere Antriebe aufeinander, so entstehen Konflikte, welche die Story vorantreiben und die Leser:innen bei der Stange halten. Game of Thrones ist auch hier wieder das beste Beispiel dafür, wie die Antriebe verschiedener Menschen derartig aufeinanderprallen können, dass am Ende ein ganzer Kontinent im Krieg liegt.
Ich versuche einmal, die tiefsten menschlichen Emotionen zusammenzufassen, die einen Antrieb bewirken. Diese sind: Liebe, Hass, Gier, Neid, Überlebenswille und religiöse Verblendung. Unter diese sechs Oberbegriffe fallen alle weiteren Beweggründe wie beispielsweise Lust, Rachsucht, Eifersucht und Machtstreben. Einen besonderen Fall stellt Trauer als Motiv darf. Trauer ist ein sehr starkes Gefühl, doch sie allein genügt nicht als Antrieb. Ein Protagonist, der aus Trauer handelt, tut was? Eigentlich nichts. Er leidet. Um aktiv zu handeln, muss ein weiterer Beweggrund hinzukommen, wie etwa eine wiedererwachte (Lebens-)Lust oder Rachsucht, beispielsweise um einen zu Unrecht getöteten geliebten Menschen zu rächen.
Don’t kill the cat!
Nicht nur Menschen, auch Tiere sind wichtige Buch-Charaktere. Als Nebenfiguren gewinnen sie die Herzen vieler Leser:innen, besonders dann, wenn sie ein bisschen kauzig und schräg sind. Für sie gilt die Antriebs-Regel nicht zwangsläufig, sondern sie können auch einfach als nettes Beiwerk auftauchen. Tragen sie zu einem Plottwist, also einer unerwarteten Wendung bei – umso besser. Genau wie bei kleinen Kindern gilt jedoch: Tiere bitte nicht umbringen! Ich habe einmal über mehrere Bände ein sehr beliebtes Tier aufgebaut, das dann einem Anschlag zum Opfer gefallen ist und dadurch einen Krieg ausgelöst hat. So stolz ich auf diesen Plottwist war – die Leser:innen haben ihn gehasst! Als Fantasyautorin habe ich zum Glück magische Möglichkeiten, um einen solchen Tod rückgängig zu machen.
Was tun, wenn ein Charakter misslingt?
Im besten Fall hast du nun alle Ratschläge beherzigt und ein Buch voller genialer Personen geschrieben. Sollte die eine oder andere Figur dennoch zu blass bleiben: Bring sie um! (Es sei denn, es handelt sich um ein Kind oder ein Tier.) Bauernopfer verzeihen die Leser:innen in der Regel, bei geliebten Protagonisten ist das etwas anderes. Auch sie kann man töten, aber sie sollten auf ehrenvolle Weise fallen und dieser Tod muss ausreichend zelebriert und immer wieder thematisiert werden. Bitte sparsam mit solchen Morden umgehen, denn niemand liest ein Buch weiter, aus dem alle Identifikationspersonen getilgt sind.
Was gar nicht geht: die Hauptfigur komplett demontieren, indem sie auf schlimme Weise gefoltert, verstümmelt oder psychisch gebrochen wird. Als Leserin habe ich schon Bücher abgebrochen, in denen so etwas passiert ist.
Welches Ende für wen?
Ich bin ein Freund von unkitschigen Happy Ends. Die Leser:innen sollen bekommen, was sie wollen. Die wichtigsten Sympathieträger finden sich oder erreichen ihr Ziel, Bösewichte werden geläutert oder umgebracht. Aber das alles bitte erst auf den letzten Seiten, um die Spannung aufrecht zu erhalten. Einige weniger bedeutenden Figuren sollten aber auch versagen oder den Leser enttäuschen, damit das Ganze nicht vollkommen unrealistisch wird.
Fazit
Zusammenfassend kann man also sagen: Romanfiguren gewinnen an Tiefe, wenn sie nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich mitsamt ihrer Ecken und Kanten beschrieben werden. Protagonisten sollten nicht nur strahlend und gut, Antagonisten nicht nur fies und dunkel sein. Alle Figuren brauchen klare Antriebe, die dann untereinander zu Konflikten führen. Demontiere deine Hauptfiguren nicht durch Verstümmelung oder psychische Entgleisungen. Und ganz wichtig: Du kannst jeden töten, außer der Katze.



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